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  Eine neue Gedenkstätte entsteht: Bildungs- und Gedenkstätte "Opfer der NS-Psychiatriue" in Lüneburg und Nierdersachsen" auf dem Gelände des Landeskrankenhauses Lüneburg uin Niedersachsen. Raimond Reiter

  Quelle: Mitteilungen Nr. 13, Februar 2004. Stiftung Deutsches Holocaust-Museum. Hg.: Hans-Jürgen Häßler. Hannover 2004: 28-30. Vollständiger Text, URL aktualisiert.

Dr. Raimond Reiter. Hannover

1. Anlass und Begründung der Gedenkstätte

Die Gedenkstättenarbeit hat auch in Niedersachsen eine bedeutsame Tradition. In ihr drücken sich vielseitige Bestrebungen aus: Es soll die Achtung der Menschenwürde, die soziale Toleranz und eine demokratische Erziehung der Menschen gestärkt werden (Gedenkstättenarbeit 1998, Seite 2. Quellen unter 6.). Es wurden und werden Stätten geschaffen, um ein angemessenes Gedenken an die Opfer zu ermöglichen. Aber auch, um eine gegenwartsbezogene politische Bildung zu unterstützen.

Auch im Bereich der Psychiatrie gibt es bundesweit Gedenkstätten, insbesondere in den früheren Vernichtungsanstalten der so genannten "T4-Aktion" im Zweiten Weltkrieg (z.B. Hadamar, Bernburg und Sonnenstein). In diesen Einrichtungen wurden 1940 / 1941 über 70.000 Patienten aus psychiatrischen Einrichtungen getötet. Im Land Niedersachsen fehlt es nach wie vor an einer angemessenen Gedenkstätte zu diesem Komplex. Zwar hat es hier keine "T4-Anstalt" gegen, wohl aber über 2.000 Opfer alleine im Rahmen der "planwirtschaftlichen Verlegungen". Gleichwohl gibt es Initiativen zu würdevollen Orten des Gedenkens, so im Nds. Landeskrankenhaus Wehnen/ Oldenburg und in Lüneburg. Im Landeskrankenhaus Wunstorf (bei Hannover) wurde, durch die Aktivitäten des Vereins Psychiatrie-Erfahrener (VPE) Hannover befördert, im Sommer 2001 eine Gedenktafel für die Opfer der NS-Psychiatrie enthüllt (Deutsches Ärzteblatt, 2001: A 2250).

Die ersten Überlegungen für eine Gedenkstätte auf dem Gelände des Landeskrankenhauses Lüneburg liegen lange Jahre zurück. Vor allem durch die "Kinderfachabteilung" Lüneburg (1941 bis Kriegsende) bietet der Standort Lüneburg eine Besonderheit in Bezug auf die NS-Verbrechen in der Psychiatrie, vergleichbar mit den Ereignissen in den zentralen Vernichtungsanstalten der "T4-Aktion". Die Anstalt Lüneburg ist die einzige in Niedersachsen, für die durch staatsanwaltschaftliche Ermittlungen ab 1945 zweifelsfrei durch Einlassungen der Täter festgestellt wurde, dass es sich um eine Tötungsstätte in der Anstaltspsychiatrie gehandelt hat. Die Zahl der Opfer liegt bei 260 bis 370 (Reiter 1996. Reiter 1997. Reiter 2000b). Lüneburg war eine der etwa 30 "Kinderfachabteilungen" in Deutschland, und außerdem für einige Hundert Patienten eine "Durchgangsanstalt" zu einer der zentralen Tötungsanstalten, sowie 1944 eine Sammelstelle für etwa 70 geisteskranke Ausländer, die zu einer Vernichtungsstätte deportiert wurden. Aus den angesprochenen Gründen wird die Vorbereitung einer Gedenkstätte auf dem Gelände des Landeskrankenhauses Lüneburg auch von der Krankenhausleitung befürwortet und unterstützt.

Die Bedingungen und Voraussetzungen für eine Bildungs- und Gedenkstätte sind günstig, da durch die Vorbereitungen zum 100-jährigen Jubiläum im Jahre 2001 umfangreiches Material im Landeskrankenhaus gesammelt worden ist. Die konkrete Vorbereitung der Bildungs- und Gedenkstätte geschieht vor Ort in einer "Arbeitsgruppe Gedenkstätte", die sich aus einer "Arbeitsgruppe Geschichte" gebildet hat. Im Laufe der Zeit  hat sich gezeigt, dass es zumindest regional ein deutliches Bedürfnis für eine Stätte im Bereich des Landeskrankenhauses Lüneburg gibt, in der die Aufarbeitung der Psychiatrie in der NS-Zeit einen festen und dauerhaften Ort findet. Hierfür gibt es u.a. folgende Hinweise: Die "Lüneburger Landeszeitung" berichtet seit Jahrzehnten immer wieder über die NS-Verbrechen in der Landes- Heil- und Pflegeanstalt Lüneburg. Ebenfalls auf ein Interesse zu diesem Thema verweisen die Auswertungen des Internetauftritts "100 Jahre Landeskrankenhaus Lüneburg". Inzwischen gibt es auf der Internetseite des Landeskrankenhauses Lüneburg eine Info-Seite zur Gedenkstätte, die ebenfalls regelmäßig besucht wird (www.nlkh-lueneburg.niedersachsen.de/gedenkstaette.html). Hervorzuheben ist auch, dass Veranstaltungen zum Thema "Euthanasie" im Rahmen der Arbeitsgemeinschaft Fortbildung im Landeskrankenhaus wiederholt auf ein reges Interesse gestoßen sind. Darüber hinaus gibt es unter Studierenden der Fachrichtung Kulturwissenschaft der Universität Lüneburg Interesse an dem Projekt, so dass sich eine fruchtbare Kooperation entwickeln konnte. Um das Interesse an Lehrern bzw. Schulklassen an einer Bildungs- und Gedenkstätte zu ermitteln, wurde eine Befragung durchgeführt.

2. Befragung zur Gedenkstätte für die Opfer der Psychiatrie im Nationalsozialismus in Lüneburg (Lehrerbefragung in Lüneburg)

Eine Befragung zur geplanten Gedenkstätte für die Opfer der Psychiatrie im Nationalsozialismus in Lüneburg entstand 2002 als Projektarbeit von fünf Studentinnen im Studiengebiet Kulturgeographie der Universität Lüneburg in Zusammenarbeit mit der Arbeitsgemeinschaft Gedenkstätte im Landeskrankenhaus Lüneburg. Durch die schriftliche Befragung von Lehrern als einer wichtige Zielgruppe der Gedenkstätte sollte das Interesse, die Vorstellungen und Anregungen von potentiellen Besuchern, sowie die Erwartungen an die Gestaltung einer solchen Gedenkstätte erfasst werden.

Als wichtige Gruppe wurden die Schulen aus der Stadt und dem Landkreis Lüneburg ausgewählt, für die die Gedenkstätte, insbesondere durch den räumlichen Bezug, einen wichtigen Beitrag zur historisch-politischen Bildung leisten kann. Befragt wurden Lehrer von 42 Schulen im Regierungsbezirk Lüneburg (Orientierungsstufen, Hauptschulen, Realschulen, Gymnasien, Sonderschulen, Berufbildende Schulen und Privatschulen). Von 500 ausgeteilten Fragebögen wurden 104 beantwortet abgegeben. Die Auswertung dieser Fragebögen zeigt, dass die Idee der Gedenkstätte seitens der Lehrer mit großer Mehrheit als positiv bzw. sehr positiv bewertet wird. Auch das Interesse der Schüler wurde von den Lehrern überwiegend als "hoch" eingestuft. 96% der interessierten Lehrer halten einen Besuch der Gedenkstätte im Rahmen des Lehrplans für realisierbar.

3. Aufgaben und Ziele der Gedenkstätte

Auch für Lüneburg kann gelten, was in der Gedenkarbeit in der Anstalt Bernburg hervorgehoben wird:

"Die Gedenkstätte für Opfer der NS-`Euthanasie` Bernburg will daher den konkreten historischen Ort sprechen lassen. Sie bietet Raum, der Opfer zu gedenken, und sich über die Vorgeschichte und die Hintergründe, die die NS-`Euthanasie` überhaupt erst möglich machten, zu informieren." (Hoffmann 1996, Seite 6).

Anders als in Bernburg ist es in Lüneburg zwar nicht direkt die historische Stätte im engeren Sinne (die Räume der "Kinderfachabteilung"), die umgebaut ist. Dennoch geht es gleichermaßen um ein aktives Gedenken und eine dauerhafte Stätte der Information als Beitrag zur historisch-politischen Bildung für verschiedene Zielgruppen. Gefördert werden soll ein Dialog zwischen den Generationen zur kritischen Reflektion über den Nationalsozialismus und zur Förderung eines demokratisch-emanzipatorischen Selbstbewusstseins insbesondere bei jüngeren Menschen. Auch das Personal des Landeskrankenhauses Lüneburg zählt zu den Zielgruppen, vor allem Schulklassen in und um Lüneburg und in Niedersachsen, Interessierte anderer Landeskrankenhäuser, Interessierte in der Stadt und der Region Lüneburg, sowie überregional Interessierte an der Gedenkstättenarbeit.

Die Bildungs- Gedenkstätte stellt sich darüber hinaus die Aufgabe, die fortlaufende Forschung zu unterstützen und neue Erkenntnisse der interessierten Öffentlichkeit in Form von Vorträgen, Ausstellungen etc. zugänglich zu machen. Aktuell wird im Bundesarchiv Berlin und im Nds. Hauptstaatsarchiv Hannover für eine Opferliste recherchiert.

4. Trägerschaft und Betreuung

Da es sich um eine Bildungs- und Gedenkstätte mit einer überregionalen Bedeutung handelt, ist eine kooperative Betreuung anzustreben. Eine Trägerschaft durch das Landeskrankenhaus Lüneburg ist nicht vorgesehen, sie wird vielmehr gemeinschaftlich durch den Psychosozialen Verein Lüneburg e.V. (PSV) und die Geschichtswerkstatt Lüneburg e.V. übernommen. Der Psychosoziale Verein unterhält Wohn- und Arbeitsprojekte für psychisch Kranke innerhalb und außerhalb des Landeskrankenhauses. Die Geschichtswerkstatt Lüneburg fördert seit Jahren die aktive Auseinandersetzung mit der Geschichte Lüneburgs im Nationalsozialismus. Die kooperative Trägerschaft durch beide Vereine unterstreicht die Absicht, mit der Gedenkstätte einen geschichtskritischen Beitrag zu der Ausgrenzung psychisch Kranker aus der Gesellschaft zu leisten. Die wissenschaftliche Beratung und Betreuung des Projekts ist durch Dr. Raimond Reiter sichergestellt (Autor der Wanderausstellung "Psychiatrie im `Dritten Reich` in Niedersachsen". Lehrbeauftragter an der Universität Hannover, www.r-reiter.de).

5. Gestaltungskonzept

Als Ort einer Gedenkstätte bieten sich Räume im Erdgeschoss des Wasserturmgebäudes des Landeskrankenhauses an, die baulich hergerichtet werden. Die Räume umfassten ursprünglich das Badehaus und nach dem Zweiten Weltkrieg ein Sozialzentrum. Bei der inhaltlichen Konzeption für die geplante Nutzung werden zwei Komplexe einbezogen: Die Konzepte anderer Gedenkstätten in der Psychiatrie und die verfügbaren Quellen. Typischer Weise umfassen Gedenkstätten in der Psychiatrie folgende inhaltlichen Dimensionen, die auch für Lüneburg relevant sind (vgl.: Verlegt nach Hadamar, 189ff. Soll nach Hadamar, Ausstellungskatalog):

- Die Vorgeschichte der Anstaltsmorde,

- die Verantwortlichen, die Täter und Helfer,

- die beteiligten Institutionen,

- der konkrete Ablauf der Phasen der Patientenselektionen und -tötungen,

- eine Darstellung einzelner Opfer,

- die Strafverfolgung der Täter und Helfer ab 1945,

-  eine kritische Betrachtung aktueller Bezüge der dargestellten Themen und ihre Bedeutung für die politische Bildung und den Dialog im historischen Lernen.

Die Gedenkstätte soll für die ständige Präsentation drei große Bereiche umfassen:

A 1 : Ausstellungsbereich 1 mit Objekten und Abbildungen aus der hundertjährigen Geschichte des Landeskrankenhauses Lüneburg.

A 2 : Ausstellungsbereich 2. Vortragsbereich mit Sitzreihen für 20 bis 30 Personen.

A 3 : Ausstellungsbereich 3. Fotos, Abbildungen und sonstige Dokumente zum Komplex der NS-Verbrechen in der Anstalt Lüneburg und in anderen Anstalten im Zweiten Weltkrieg in Niedersachsen. Auch die Aspekte der Kontinuität und des Bruchs durch die Zäsuren 1933 und 1945 sollen nachvollziehbar sein. Auch wird ein Beitrag zur Wertschätzung der künstlerischen Arbeiten von Patienten geleistet. Die Ausstellungsfläche der Bildungs- und Gedenkstätte umfasst ca. 100 qm. Das Projekt wird durch Landesmittel des Landes Niedersachsen gefördert. Die Eröffnung ist für das Jahr 2004 geplant. Für die Öffentlichkeitsarbeit wird es einen eigenen Internetauftritt geben.

6. Literatur und andere Quellen

100 Jahre Landeskrankenhaus Lüneburg (Festschrift). Hg.: Landeskrankenhaus Lüneburg. Lüneburg 2001.

Deutsches Ärzteblatt, Jahrgang 98/ Heft 36 (7.9.2001). 2001: A 2250.

Gedenkstättenarbeit: Gedenkstättenarbeit in Niedersachsen. Spurensuche - Erinnerungen wach halten. Hg.: Niedersächsisches Kultusministerium. Hannover 1998 (2. Auflage).

Hoffmann 1996: Ute Hoffmann (Autorin), Todesursache "Angina". Zwangssterilisationen und "Euthanasie" in der Landes- Heil- und Pflegeanstalt Bernburg. Hg.: Ministerium des Innern des Landes Sachsen-Anhalt. Magdeburg 1996.

http://www.pk.lueneburg.de/gedenkstaette

Niedersächsisches Hauptstaatsarchiv Hannover; Bestand Hann 155 Lüneburg.

Lüneburger Landeszeitung. 18.11.1978; 12.1.1991; 22.9.1993; 25.7.2000: 7; 26.1.2001; 29.1. 2001: 3.

Reiter 1996: Raimond Reiter, Die "Kinderfachabteilung" in Lüneburg. In: 1999. Zeitschrift für Sozialgeschichte des 20. und 21. Jahrhunderts, Heft 3. Hg.: Hamburger Stiftung für Sozialgeschichte. Hamburg 1996: 55-67.

Reiter 1997: Raimond Reiter, Psychiatrie im Dritten Reich in Niedersachsen. Hannover 1997.

Reiter 2000a: Raimond Reiter, Empirie und Methode in der Erforschung des "Dritten Reiches". Frankfurt M. u.a.O. 2000.

Reiter 2000b: Raimond Reiter, NS-Verbrechen in der Psychiatrie. Wanderausstellung: Psychiatrie im "Dritten Reich" in Niedersachsen. In: Recht und Psychiatrie, 18. Jahrgang. Bonn 2000: 122-124.

Reiter 2000c: Raimond Reiter, Vollständige Überlieferung zur 100jährigen Geschichte des Landeskrankenhauses Lüneburg: Ein Beispiel zur Aktenlage über die Geschichte der Anstaltspsychiatrie. In: Der Archivar. Hg.: Nordrhein-Westfälisches Hauptstaatsarchiv, 53. Jahrgang, Heft 1. 2000: 43-45.

Reiter 2001a: Raimond Reiter (Autor), Psychiatrie im "Dritten Reich" in Niedersachsen. Begleitmaterial zur Wanderausstellung. Gefördert vom Niedersächsischen Ministerium für Frauen, Arbeit und Soziales. Hannover 2001.

Reiter, Raimond 2001b. Wie viele Kinder wurden im Zweiten Weltkrieg Opfer der NS-Psychiatrie? In: Sozialpsychiatrische Informationen. Nr. 3/2001. 31. Jahrgang. Wiesbaden 2001: 18-23.

Soll nach Hadamar: "Soll nach Hadamar überführt werden". Den Opfern der Euthanasiemorde 1933 bis 1945. (Ausstellungskatalog). Frankfurt M. 1989.

Verlegt nach Hadamar: "Verlegt nach Hadamar". Die Geschichte einer NS-"Euthanasie"-Anstalt. Hg.: Landeswohlfahrtsverband Hessen. Kassel 1994.

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